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  Den 21. ritt er mit mir nach Belmont, wo wir die allgemeine Großmutter, die 176 Abstämmlinge erlebet, begruben. Daheim communicirte er mir mit einer edeln Freimüthigkeit, was ihm an meinem Vortrag, u.s.w. mißfallen; wir waren vergnügt bei einander, es war mir wohl bei ihm; er zeigte sich in allem als ein liebenswürdiger Jüngling.

  Hr. K. . . hatte mir sagen lassen: er würde, seiner Braut das Steinthal zu zeigen, zu uns kommen und einen Theologen mitbringen, der gerne hier predigen möchte.

  Ich bin nun bald eilf Jahre hier; anfangs waren meine Predigten vortrefflich, nach dem Geschmacke der Steinthäler. Seitdem ich aber dieser guten Leute Fehler kenne und ihre äußerste Unwissenheit in Allem, und besonders in der Sprache selbst, in der man ihnen predigt, und ich mich daher so tief mir immer möglich herunter lassen und dem mir nun bekannten Bedürfniß meiner Zuhörer gemäß zu predigen mich bemühe, seit dem hat man beständig daran auszusetzen. Bald heißt es: ich wäre zu scharf; bald: so könne es Jeder; bald: meine Mägde hätten mir meine Predigt gemacht, u.s.w. Ueberdies macht mir das Predigen oft mehr Mühe als alle andre Theile meines Amtes zusammen genommen. Ich bin daher herzlich froh wann bisweilen jemand anders für mich predigen will.

  Hr. L. . ., nachdem er die Schulen der Conductrices und Anderes in Augenschein genommen, und er mir seine Gedanken freimüthig über Alles mitgetheilt, äußerte mir seinen Wunsch für mich zu predigen. Ich fragte ihn ob er der Theolog wäre, von dem mir Hr. K. . . hätte sagen lassen? »Ja,« sagte er, und ich ließ mirs, um obiger Ursachen willen, gefallen; es geschah den darauf folgenden Sonntag, den 25sten. Ich gieng vor den Altar, sprach die Absolution, und Hr. L. . . hielt auf der Kanzel eine schöne Predigt, nur mit etwas zu vieler Erschrockenheit. Hr. K. . . war mit seiner Braut auch in der Kirche. Sobald er konnte bat er mich, mit ihm besonders zu gehn, und fragte mich mit bedeutender Miene, wie sich Hr. L. seitdem betragen und was wir mit einander gesprochen hätten. Ich sagte ihm was ich noch davon wußte; H. K. sagte: es wäre gut. Bald darauf war er auch mit Hrn. L. allein. Es kam mir dies alles etwas bedenklich vor, wollte da nicht fragen, wo ich sah daß man geheimnißvoll wäre, nahm mir aber vor meinen Unterricht weiter zu suchen.

  Hr. K. lud mich freundschaftlich ein, mit ihm zu seiner Hochzeit in die Schweiz zu gehn. So gern ich längst die Schweiz gesehen, einen Lavater, einen Pfenninger und andre Männer gekannt und gesprochen hätte, so sehr meinem Leibe und Gemüthe (ich hatte einige harte Monate gehabt), eine Aufmunterung und Stärkung durch eine Reise wünschbar war, so unübersteigliche Hindernisse fand ich auf allzuvielen Seiten. Hr. K. räumte einen großen Theil durch Mittheilung seines Reiseplanes aus dem Wege: ich überlegte den Rest und fand Möglichkeit.

  Am Montag, den 26., nachdem ich meine letzten damaligen Patienten begraben hatte, gieng ich den nächsten Weg über Rhein. Herr L. sollte die Kanzel und mein Hr. Amtsbruder die eigentlichen Actus pastorales, die den damaligen Umständen nach, sparsam oder gar nicht vorkommen sollten, versehen.

  Ich kam nicht weiter als bis nach Köndringen und Emmendingen, wo ich Hrn. Sander und am zweiten Ort Hrn. Schlosser zum ersten Mal sah und besprach; sodann über Breisach nach Colmar, wo ich Hrn. Pfeffel und Lerse kennen lernte; und zurück ins Steinthal.

  Ich hatte nun hinlänglichen Unterricht in Ansehung Hrn. L. bekommen, und übrigens so viel Satisfaction von meiner Reise, daß, so rar bei einem Steinthäler Pfarrer das Geld ist, ich sie nicht um hundert Thaler gebe.

  Ueber meine unvermuthete Rückkunft war Hr. L. betroffen und etwas bestürzt, meine Frau aber entzückt, und bald darauf, nach einiger Unterredung, auch Hr. L.

  Ich hörte daß in meiner Abwesenheit Vieles, auf Hrn. L. . .’s Umstände Passendes und für ihn Nützliches, gesprochen worden, ohngeachtet meine Frau die Umstände selbst, die ich erst auf meiner Reise erfuhr, nicht wußte.

  Ich erfuhr ferner daß Hr. L., nach vorhergegangenen eintägigen Fasten, Bestreichung des Gesichtes mit Asche, Begehrung eines alten Sackes, den 3. Hornung ein zu Fouday so eben verstorbenes Kind, das Friederike hieß, aufwecken wollte, welches ihm aber fehlgeschlagen.

  Er hatte eine Wunde am Fuß hieher gebracht, die ihn hinken machte und ihn nöthigte hier zu bleiben. Meine Frau verband sie ihm täglich und man konnte baldige Heilung hoffen. Durch das unruhige Hinundherlaufen aber, da er das Kind erwecken wollte, verschlimmerte sich die Wunde so sehr, daß man die Entzündung mit erweichenden Aufschlägen wahren mußte. Auf unsre und Hrn. K. . .’s häufige Vorstellungen, hatte er sein Baden eingestellt, um die Heilung der Wunde zu befördern. In der Nacht aber, zwischen dem 4. und 5. Hornung, sprang er wieder in den Brunnentrog, mit heftiger Bewegung, um, wie er nachher gestand, die Wunde aufs Neue zu verschlimmern.

  Seit Hrn. K. . .’s Besuch logirte Hr. L. nicht mehr im Schulhaus, sondern bei uns in dem Zimmer über der Kindsstube. Den Tag hindurch war er auf meiner Stube, wo er sich mit Zeichnen und Malen der Schweizergegenden, mit Durchblättern und Lesen der Bibel, mit Predigtschreiben, und Unterredung mit meiner Frau beschäftigte.

  Den 5. Hornung kam ich von meiner Reise zurück; er war, wie ich oben gesagt, anfangs darüber bestürzt, und bedauerte sehr daß ich nicht in der Schweiz gewesen. Ich erzählte ihm daß Hr. Hofrath Pfeffel die Landgeistlichen so glücklich schätzt, und ihren Stand beneidenswerth hält, weil er so unmittelbar zur Beglückung des Nächsten aufweckt. Es machte Eindruck auf ihn. Ich bediente mich dieses Augenblicks ihn zu ermahnen sich dem Wunsche seines Vaters zu unterwefen, sich mit ihm auszusöhnen, u.s.w.

  Da ich bei manchen Gelegenheiten wahrgenommen daß sein Herz von fürchterlicher Unruhe gemartert wurde, sagte ich ihm, er würde sodann wieder zur Ruhe kommen, und schwerlich eher, denn Gott wußte seinem Worte: »Ehre Vater und Mutter,« Nachdruck zu geben, u.s.w.

  Alles was ich sagte waren nur meistens Antworten auf abgebrochene, oft schwer zu verstehende Worte, die er in großer Beklemmung seines Herzens ausstieß. Ich merkte, daß er bei Erinnerung gethaner, mir unbekannter Sünde, schauderte, an der Möglichkeit der Vergebung verzweifelte; ich antwortete ihm darauf; er hob seinen niederhängenden Kopf auf, blickte gen Himmel, rang die Hände, und sagte: »Ach! ach! göttlicher Trost — ach — göttlich — o — ich bete — ich bete an!« Ich sagte mir sodann ohne Verwirrung, daß er nun Gottes Regierung erkenne und preise, die mich so bald, ihn zu trösten, wieder heimgeführt.

  Ich gieng im Zimmer hin und her, packte aus, legte in Ordnung, stellte mich zu ihm hin. Er sagte mit freundlicher Miene: »Bester Herr Pfarrer, können Sie mir doch nicht sagen was das Frauenzimmer macht, dessen Schicksal mir so zentnerschwer auf dem Herzen liegt?« Ich sagte ihm, wußte von der ganzen Sache nichts, ich wolle ihm in Allem, was ihn wahrhaft beruhigen könne, aus allen Kräften dienen, er müßte mir aber Ort und Personen nennen. Er antwortete nicht, stand in der erbärmlichsten Stellung, redete gebrochene Worte: »Ach! ist sie todt? Lebt sie noch? — Der Engel, sie liebte mich — ich liebte sie, sie war’s würdig — o, der Engel! — Verfluchte Eifersucht! ich habe sie aufgeopfert — sie liebte noch einen Andern — aber sie liebte mich — ja herzlich — aufgeopfert — die Ehe hatte ich ihr versprochen, hernach verlassen — o, verfluchte Eifersucht! — O, gute Mutter! — auch die liebte mich — ich bin euer Mörder!«

  Ich antwortete wie ich konnte; sagte ihm unter anderm, vielleicht lebten diese Personen alle noch, und vielleicht vergnügt; es mag seyn wie es wolle, so könnte und würde Gott, wenn er sich zu ihm bekehrt haben würde, diesen Personen auf sein Gebet und Thränen, so viel Gutes erweisen, daß der Nutzen, den sie sodann von ihm hätten, den Schaden so er ihnen zugefügt, leicht und vielleicht weit überwiegen würde. — Er wurde jedoch nach und nach ruhiger, und gieng an sein Malen.

  Hr. C. hatte mir zu Emmendingen einige in Papier gepakte Gerten, nebst einem Brief für ihn mitgegeben. Eines Males kam er zu mir; auf der linken Schulter hatte er ein Stück Pelz, so ich, wenn ich mich der Kälte lange aussetzen muß, auf den Leib zu legen gewohnt bin. In der Hand hielt er die noch eingepackten Gerten; er gab sie mir, mit Begehren, ich solle ihn damit herumschlagen. Ich nahm die Gerten aus seiner Hand, drückte ihm einige Küsse auf den Mund u
nd sagte: Dies wären die Streiche, die ich ihm zu geben hätte, er möchte ruhig seyn, seine Sachen mit Gott allein ausmachen; alle möglichen Schläge würden keine einzige seiner Sünden tilgen, dafür hätte Jesus gesorgt, zu dem möchte er sich wenden. Er gieng.

  Beim Nachtessen war er etwas tiefsinnig. Doch sprachen wir von allerlei. Wir giengen endlich vergnügt von einander und zu Bette. — Um Mitternacht erwachte ich plötzlich; er rannte durch den Hof, rief mit harter etwas hohler Stimme einige Sylben, die ich nicht verstand; seitdem ich aber weiß daß seine Geliebte Friedericke* hieß, kommt es mir vor als ob es dieser Name gewesen wäre, mit äußerster Schnelle, Verwirrung und Verzweiflung ausgesprochen. Er stürzte sich, wie gewöhnlich, in den Brunnentrog, pattschte drinn, wieder heraus und hinauf in sein Zimmer, wieder hinunter in den Trog, und so einige Mal — endlich wurde er still. Meine Mägde, die in dem Kindsstübchen unter ihm schliefen, sagten, sie hatten oft, insonderheit aber in selbiger Nacht, ein Brummen gehört, das sie mit nichts als mit dem Ton einer Habergeise zu vergleichen wüßten. Vielleicht war es sein Winseln mit hohler, fürchterlicher, verzweifelnder Stimme.

  Freitag den 6., den Tag nach meiner Zurückkunft, hatte ich beschlossen nach Rothau, zu Hrn. Pfr. Schweighäuser zu reiten. Meine Frau gieng mit. Sie war schon fort, und ich im Begriff auch abzureisen. Aber welch ein Augenblick! Man klopft an meiner Thüre, und Hr. L. tritt herein mit vorwärts gebogenem Leibe, niederwärts hängendem Haupt, das Gesicht über und über und das Kleid hier und da mit Asche verschmiert, mit der rechten Hand an dem linken Arm haltend. Er bat mich ihm den Arm zu ziehen, er hätte ihn verrenket, er hätte sich zum Fenster herunter gestürzt; weil es aber Niemand gesehn, möcht’ ich’s auch Niemand sagen.

  Ich that was er wollte und schrieb eilends an Sebastian Scheidecker, Schullehrer von Bellefosse, er solle herunter kommen, Hrn. L. hüten. Ich eilte fort. Sebastian kam und richtete seine Commission unvergleichlich aus, stellte sich als ob er mit uns hätte reden wollen, sagte ihm daß, wenn er wüßte daß er ihm nicht überlästig oder von etwas abhielte, wünschte er sehr einige Stunden in seiner Gesellschaft zu seyn. Hr. L. nahm es mit besonderem Vergnügen an, und schlug einen Spaziergang nach Fouday vor, — gut. Er besuchte das Grab des Kindes das er hatte erwecken wollen, kniete zu verschiedenen Malen nieder, küßte die Erde des Grabes, schien betend, doch mit großer Verwirrung, riß etwas von der auf dem Grab stehenden Krone ab, als ein Andenken, gieng wieder zurück gen Waldersbach, kehrte wieder um, und Sebastian immer mit. Endlich mochte Hr. L. die Absicht seines Begleiters errathen; er suchte Mittel ihn zu entfernen. Sebastian schien ihm nachzugeben, fand aber heimlich Mittel seinen Bruder Martin von der Gefahr zu benachrichtigen, und nun hatte Hr. L. zween Aufseher statt einen. Er zog sie wacker herum, endlich gieng er nach Waldersback zurück; und da sie nahe am Dorf waren, kehrte er wie ein Blitz um, und sprang, ungeachtet seiner Wunde am Fuß, wie ein Hirsch gen Fouday zurück. Sebastian kam zu uns um uns das Vorgegangene zu berichten, und sein Bruder setzte dem Kranken nach. Indem er ihn zu Fouday suchte, kamen zwei Krämer und erzählten ihm, man hätte in einem Hause einen Fremden gebunden, der sich für einen Mörder ausgäbe, und der Justiz ausgeliefert seyn wollte, der aber gewiß kein Mörder seyn könnte. Martin lief in das Haus und fand es so; ein junger Mensch hatte ihn, auf sein ungestümes Anhalten, in der Angst gebunden. Martin band ihn los und brachte ihn glücklich nach Waldersbach. Er sah verwirrt aus; da er aber sah daß ich ihn wie immer freundschaftlich und liebreich empfieng und behandelte, bekam er wieder Muth, sein Gesicht veränderte sich vortheilhaftig, er dankte seinen beiden Begleitern freundlich und zärtlich und wir brachten den Abend vergnügt zu.

  Ich bat ihn inständig nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben, und wann er nicht schlafen könnte, sich mit Gott zu unterhalten, u.s.w. Er versprach’s, und wirklich that er’s die folgende Nacht; unsre Mägde hörten ihn fast die ganze Nacht hindurch beten.

  Den folgenden Morgen, Samstag den 7., kam er mit vergnügter Miene auf mein Zimmer. Ich hoffte wir würden bald am Ende unsrer gegenseitigen Qual sey; aber leider der Erfolg zeigte was anders.

  Nachdem wir Verschiedenes gesprochen hatten, sagte er mir mit ausnehmender Freundlichkeit: »Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer von dem ich ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben — o, der Engel!« — Woher wissen Sie das? — »Hieroglyphen — Hieroglyphen!« — und dann gen Himmel geschaut und wieder: »Ja — gestorben — Hieroglyphen!« — Er schrieb einige Briefe, gab mir sie sodann zu, mit Bitte, ich möchte noch selbst einige Zeilen darunter setzen.

  Ich hatte mit einer Predigt zu thun und steckte die Briefe indessen in meine Tasche. In dem einen an eine adelige Dame in W., schien er sich mit Abadonna zu vergleichen; er redete von Abschied. — Der Brief war mir unverständlich, auch hatte ich nur einen Augenblick Zeit ihn zu übersehen, eh ich ihn von mir gab. In dem andern an die Mutter seiner Geliebten, sagt er, er könne ihr diesmal nicht mehr sagen, als daß ihre Friederike nun ein Engel sey und sie würde Satisfaction bekommen.

  Der Tag gieng vergnügt und gut hin. Gegen Abend wurde ich nach Bellefosse zu einem Patienten geholt. Da ich zurück kam, kam mir Hr. L. . . entgegen. Es war gelind Wetter und Mondschein. Ich bat ihn nicht weit zu gehn und seines Fußes zu schonen. Er versprach’s.

  Ich war nun auf meinem Zimmer und wollte ihm jemand nachschicken, als ich ihn die Stieg herauf in sein Zimmer gehn hörte. Einen Augenblick nachher platzte etwas im Hof mit so starkem Schall, daß es mir unmöglich von dem Fall eines Menschen herkommen zu können schien. Die Kindsmagd kam todtblaß und am ganzen Leib zitternd zu meiner Frau: Hr. L. hätte sich zum Fenster hinaus gestürtzt. Meine Frau rief mir mit verwirrter Stimme — ich sprang heraus, und da war Hr. L. schon wieder in seinem Zimmer.

  Ich hatte nur einen Augenblick Gelegenheit einer Magd zu sagen: »Vite, chez l’homme juré, qu’il me donne deux hommes,« und hierauf zu Hrn. Lenz.

  Ich führte ihn mit freundlichen Worten auf mein Zimmer; er zitterte vor Frost am ganzen Leibe. Am Oberleib hatte er nichts an als das Hemd welches zerrissen und sammt der Unterkleidung über und über kothig war. Wir wärmten ihm ein Hemd und Schlafrock und trockneten die seinigen. Wir fanden, daß er in der kurzen Zeit die er ausgegangen war, wieder mußte versucht haben sich zu ertränken, aber Gott hatte auch da wieder gesorgt. Seine ganze Kleidung war durch und durch naß.

  Nun, dachte ich, hast du mich genug betrogen, nun mußt du betrogen, nun ist’s aus, nun mußt du bewacht seyn. Ich wartete mit großer Ungeduld auf die zwei begehrten Mann. Ich schrieb indessen an meiner Predigt fort und hatte Hrn. L. . . am Ofen, einen Schritt weit von mir sitzen. Keinen Augenblick traute ich von ihm, ich mußte harren. Meine Frau, die um mich besorgt war, blieb auch. Ich hätte so gerne wieder nach den begehrten Männern geschickt, konnte aber durchaus nicht mit meiner Frau oder sonst jemand davon reden; laut, hätte ers verstanden; heimlich, das wollten wir nicht, weil die geringste Gelegenheit zu Argwohn auf solche Personen allzu heftig Eindruck macht. Um halb neun giengen wir zum Essen; es wurde, wie natürlich, wenig geredet; meine Frau zitterte vor Schrecken und Hrn. L. . . vor Frost und Verwirrung.

  Nach kaum viertelstündigem Beisammensitzen fragte er mich ob er nicht hinauf in mein Zimmer dürfte? — Was wollen sie machen, mein Lieber? — etwas lesen — gehn Sie in Gottes Namen; — er gieng, und ich, mich stellend als ob ich genug gegessen, folgte ihm.

  Wir saßen; ich schrieb, er durchblätterte meine französiche Bibel mit furchtbarer Schnelle, und ward endlich stille. Ich gieng einen Augenblick in die Stubkammer ohne im allergeringsten mich aufzuhalten, nur etwas zu nehmen das in dem Pult lag. Meine Frau stand inwendig in der Kammer an der Thür und beobachtete Hrn. L.; ich faßte den Schritt wieder heraus zu gehen, da schrie meine Frau mit gräßlicher, hohler gebrochener Stimme: »Herr Jesus, er will sich erstechen!« In meinem Leben hab ich keinen solchen Ausdruck eines tödtlichen, verzweifelten Schreckens gesehn als in dem Augenblick, in den verwilderten, gräßlich verzogenen Gesichtszügen meiner Frau.

  Ich war haußen. — Was wollen Sie doch immer machen, mein Lieber? — Er legte die Scheere hin
. — Er hatte mit scheußlich starren Blicken umher geschaut, und da er Niemand in der Verwirrung erblickte, die Scheere still an sich gezogen, mit fest zusammen gezogener Faust sie gegen das Herz gesetzt, alles dieß so schnell daß nur Gott den Stoß so lange aufhalten konnte, bis das Geschrei meiner Frau ihn erschreckte und etwas zu sich selber brachte. Nach einigen Augenblicken nahm ich die Scheere, gleichsam als in Gedanken und wie ohne Absicht auf ihn, hinweg; dann, da er mich feierlich versichern wollte daß er sich nicht damit umzubringen gedacht hätte, wollte ich nicht thun als wenn ich ihm gar nicht glaubte.

  Weil alle vorigen Vorstellungen wider seine Entleibungssucht nichts bei ihm gefruchtet hatten, versuchte ich’s auf eine andre Art. Ich sagte ihm: Sie waren bei uns durchaus ganz fremd, wir kannten sie ganz und gar nicht; ihren Namen haben wir ein einzigmal aussprechen hören, ehe wir sie gekannt; wir nahmen sie mit Liebe auf, meine Frau pflegte Ihren kranken Fuß mit so großer Geduld und sie erzeigen uns so viel Böses, stürzen uns aus einem Schrecken in den andern. — Er war gerührt, sprang auf, wollte meine Frau um Verzeihung bitten; sie aber fürchtete sich nun noch so viel vor ihm, sprang zur Thüre hinaus; er wollte nach, sie aber hielt die Thüre zu. — Nun jammerte er, er hätte meine Frau umgebracht, das Kind umgebracht so sie trage: Alles, Alles bring’ er um, wo er hin käme. — Nein, mein Freund, meine Frau lebt noch und Gott kann die schädlichen Folgen des Schreckens wohl hemmen, auch würde ihr Kind nicht davon sterben noch Schaden leiden. — Er wurde wieder ruhiger. Es schlug bald zehn Uhr. Indessen hatte meine Frau in die Nachbarschaft um schleunige Hilfe geschickt. Man war in den Betten; doch kam der Schulmeister, that als ob er mich etwas zu fragen hätte, erzählte mir etwas aus dem Kalender, und Hr. L., der indessen wieder munter wurde, nahm auch Theil am Discurs, wie wenn durchaus nichts vorgefallen wäre.

  Endlich winkte man mir, daß die zwei begehrten Männer angekommen — o wie war ich so froh! Es war Zeit, eben begehrte Hr. L. zu Bette zu gehn. Ich sagte ihm: »Lieber Freund, wir lieben Sie, Sie sind davon überzeugt, und Sie lieben uns, das wissen wir eben so gewiß. Durch Ihre Entleibung würden Sie Ihren Zustand verschlimmern, nicht verbessern; es muß uns also an Ihrer Erhaltung gelegen seyn. Nun aber sind Sie, wenn Sie die Melancholie überfällt, Ihrer nicht Meister; ich habe daher zwei Männer gebeten in Ihrem Zimmer zu schlafen (wachen dachte ich), damit Sie Gesellschaft, und wo es nöthig, Hilfe hätten. Er ließ sich’s gefallen.